Neugierig, wie die Pyrenäen wohl von der anderen Seite aussehen, machen wir uns heute auf nach Frankreich. Das Septemberwetter zeigt sich in seiner vollsten Schönheit. Die Sonne scheint durch das offene Verdeck des Wagens auf uns herab und der Tramuntana lässt erste Blätter tanzen. Unsere Fahrt führt quer durchs Land über die vielen kleinen Dörfer des Empordà mit Blick auf Berge und Meer.
Wir durchqueren das Aiguamolls bei Castelló d’Empúries. Mitten im naturgeschützten Sumpfgebiet stoppt uns ein Schwarm Störche. Die großen Vögel staksen mit ihren roten langen Storchbeinen gesellig zwischen Kühen herum und scheinen gemeinsam mit denen zu grasen. Wir fahren vorbei an den kleinen, am Hang liegenden Dörfer Palau-Saverdera und Pau, deren Urbanisationen mit Sicht auf das Mittelmeer immer mehr internationale Hauskäufer anziehen.
Bergauf geht es durch Vilajuïga. Im Ort gibt es eine Mineralwasserquelle, die bereits seit dem Jahre 1904 kommerziell unter der Markenbezeichnung Aigua de Vilajuïga genutzt wird. Die Anwohner können kostenloses Wasser aus öffentlichen Hähnen zapfen. Da den Quellen des Dorfes magische Kräfte nachgesagt werden, kosten auch wir davon und stellen fest, dass es irgendwie besonders schmeckt.
Wir folgen der Ausschilderung Sant Pere de Rodes über die für diese Jahreszeit typisch freie Passstraße hinauf in die Ausläufer des Naturparks Cap de Creus und stoppen hoch oben an einer alten Masia, deren Ruine heute als öffentlicher Grillplatz genutzt werden kann.
Umrandet von alten Platanen, begleitet von vielen Holzbänken und einem atemberaubenden Blick über die ganze Region, ist sie ein viel besuchter Ort für familiäre Picknicker, neugierige Wanderer oder feiernde Jugendliche. Nur schwer können wir unseren Blick von der Weite des Empordà, dem in der Sonne glitzernde Meer und den erhaben den Horizont markierenden Pyrenäen reißen. Doch wir haben noch viel vor – weiter geht es nach Sant Pere de Rodes.
Was uns dort erwartet, übersteigt alle Erwartungen: das ehemalige Benediktinerkloster thront vor uns auf einem Felsen, mächtig und einschüchternd zugleich. Mit seinen vielen Türmen, der schweren Steinfassade und dem Kreuzgang des Klosters steht es eingebettet in die Natur und bietet Besuchern des Museums einen Einblick in seine Geschichte. Auch das Restaurant ist ein Geheimtipp, denn dort gibt es Köstlichkeiten zum kleinen Preis und einen weiten Blick über das Meer inklusive.
Von hier geht es wieder bergab hinunter zum Meer, Port de Selva und Llafranç streifend, über das Weingebiet bis nach Colera. Die verschlafene, kleine Stadt kurz vor der Grenze nach Frankreich mit der Eisenbahnbrücke über ihren Toren protzt heute mit ihren schönen Villen an den Klippen des Meeres.
Portbou ist dann unser letzter Stopp kurz vor Frankreich. Dem deutschen Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin, der 1940 aus Angst vor der Gestapo in Portbou den Freitod beging, wurde 1994 das Denkmal „Passagen“ gewidmet. Der israelische Bildhauer Dani Karavan schuf ein beeindruckendes begehbares Mahnmal: Ein Tunnel aus rostigem Stahl führt die Besucher eine lange Treppe die Klippe hinab bis fast zum Meer hinunter. Eine Glaswand mit einem Zitat Benjamins verriegelt den Zugang zum Horizont und bewahrt gleichzeitig vor dem Fall in die Tiefe. Eingraviert in Glas das Zitat aus Benjamins Notizen zu seinem letzten 1939 entstandenen Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ (Walter Benjamin, G.S. I, 1241)
Zwischen Frankreich und Spanien tauchen die letzten Pyrenäenausläufer ins Mittelmeer. Wir winden uns die Serpentinen hinauf ins Nachbarland.
An die früher überwachte Grenze zu Frankreich erinnern heute nur noch die alten Grenzhäuschen, die mit Graffiti besprüht, verlassen oben auf dem Berg dümpeln. Jeder kann ungehindert in beide Richtungen passieren. Kriege schafften immer wieder Grenzen, die vielen Menschen zum Verhängnis wurden. Heute freuen wir uns über ein vereintes Europa und können frei reisend feststellen, dass die Pyrenäen auch von der anderen Seite aus betrachtet, erhaben und wunderschön beeindrucken.