Mission: Ein Tag und eine Nacht in Barcelona, 8 Stunden Zeit, einen Stadtteil bis in die hintersten Ecken ausschnüffeln. Oder vielleicht auch – gerade die hintersten Ecken. Es ist zehn Uhr morgens, ich sitze vor einem Kaffee und einem Sandwich in einer kleinen Eckbar am Straßenrand und versuche den Kater herunterzuspülen, den mir die letzte Nacht beschert hat, in der ich mich von Barcelonas verlockendem Nachtleben habe verführen lassen. Es hat sich gelohnt und es hilft alles nichts – mir bleiben noch genau neun Stunden in dieser Stadt, in die ich mich auf den ersten Blick verliebt habe, bevor es wieder zurück nachhause geht und meine Neugier schreit lauter als mein brummender Schädel.
Zudem macht mich das Gefühl, mich mal wieder eng an die Brust der Großstadt schmiegen zu dürfen, geradezu zappelig. So gerne ich die letzten Wochen in der Ruhe und Abgeschiedenheit der spanisch Dörfer gebadet habe, brauche ich ab und zu das hektische Kontrastprogramm. Immerhin wohne ich normalerweise mitten im Herzen Berlins. Was macht man also, in einer so begrenzten Zeit und an einem solchen Ort, der überzusprudeln scheint vor Lebendigkeit? Der große Vorteil ist, dass ich schon vorher weiß, wohin es mich ziehen wird. Ich bin kein großer Liebhaber von überlaufenen Sehenswürdigkeiten, bei meiner Größe würde ich vor lauter Köpfen vor mir ohnehin nicht viel sehen. Es ist der Stadtteil Raval der mich lockt, jener faustförmige Fleck, der südlich der Rambla beginnt und in den sich vor ein paar Jahren noch kaum ein Spaziergänger verirrt hätte.
Beherrscht von Prostitution und Kriminalität und gekennzeichnet durch katastrophale Wohnbedingungen, sowie ein niedriges Bildungsniveau war er wohl das Gegenteil zu den schillernden Touristenpromenaden Barcelonas. Erst im Laufe der letzten Jahre und im Zuge der nach dem Tod Francos ergriffenen Verbesserungsmaßnahmen des Wohnraumes, ließ sich dem düsteren Gesicht des Ravals ein Lächeln entlocken – nach und nach entwickelte sich eine lebhafte Subkultur junger Menschen, charmante Cafés und alternative Bars hielten Einzug in die leerstehenden Gebäudekomplexe und erste Besucher begannen zögerlich durch die schmalen Gassen zu streichen. Zwar umweht diesen Teil der Stadt immer noch ein rauer Wind, jedoch hat er inzwischen den Ruf, maßgeblich zu Barcelonas Szene-Charakter beizutragen.
Der Grund, weshalb mir die Finger so nach der Erkundung dieses Gebietes jucken, liegt wohl auch in der Tatsache verborgen, dass meine Wohnung in Berlin in dem Stadtteil Neukölln liegt, der dem Raval, in Bezug auf die in jüngerer Vergangenheit statt gefundenen Umwälzungsprozesse, wie ein Zwillingsbruder gleicht. Somit hoffe ich, vielleicht auch ein bisschen Heimat in den Strassen zu entdecken – die es dann endgültig unmöglich machen würde, nicht bald für längere Zeit nach Barcelona zurückzukehren.
Eine Stunde später, nachdem es mir gelungen ist, durch die Touristenschwärme, die die Rambla bevölkern, hindurch zu tauchen, finde ich mich also wieder, in dem chaotischen Gewirr schmaler Gassen und Verästelungen, die meinem malträtierten Kopf höchste Konzentration abverlangen.
Es ist verblüffend wie schnell Stille zwischen die Häuser sickert und der Lärm der Rambla ausgeschlossen zu sein scheint – ich fühle mich augenblicklich, als wäre ich soeben in einen Kokon geschlüpft, zu dem der Rest der Welt keinen Zugang hat.
Doch nicht nur durch die Ruhe hebt sich der Raval von dem Teil Barcelonas ab, den ich bis jetzt gesehen habe. Nach und nach werden die bunten Souvenirshops, die eben noch die Straßenränder pflasterten, durch kleine Gemüseläden, Metzgereien und Kioske ersetzt, vor deren Türen man sowohl Wassereis, als auch ein neues Handy kaufen kann. Da ich weder Reiseführer noch einen besonders guten Orientierungssinn habe, beschließe ich, einfach ziellos durch die Umgebung zu streifen.
Bald werden die Straßen schmaler, teilweise sind sich die Häuser so zugewandt, dass ihre schmiedeeisernen Balkone sich fast streifen – Wäscheleinen zieren die Fassaden, an denen bunte Hemden und Kleider flattern. Der Weg vor mir wird zunehmend menschenleer, aus den geöffneten Fenstern der Häuser dringen Staubsaugergeräusche und Kindergeschrei. Im Gegensatz zu der vor Menschen überquellenden Rambla, habe ich hier das Gefühl, einem ehrlicheren Ort der Stadt zu begegnen, an dem der Alltag der Bewohner an jeder Ecke seine Spuren hinterlässt.
Wie ich es auch aus Neukölln gewohnt bin, merke ich schnell, dass sich auch der Raval in unterschiedliche Zonen einteilen lässt. Umso tiefer ich mich in seinen Schlund vortaste, umso mehr begebe ich mich in den Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen. Die Stille, die mich zunächst umfangen hat, wechselt nun mit einer Geräuschkulisse, die nicht weniger dröhnend ist, als das Stimmengewirr auf der Rambla. Ich laufe in Gassen hinein, in denen beide Seiten der Häuser von Marktständen und Gemüsehändlern gesäumt sind, Kopftücher tragende Frauen füllen ihre Einkaufskörbe und tauschen dabei Neuigkeiten aus, Kinder spielen am Straßenrand, Nüsse kauende Männer trinken Tee vor den Türen der Wohnungen. Dieser Ort erinnert mich so sehr an Neukölln, dass es fast schon ein bisschen wehtut – spätestens als die ersten Dönerbuden vor mir auftauchen, kann ich die Heimatglocken läuten hören.
Ein paar Häuserecken weiter tauchen dann die ersten Graffitis an den Wänden auf – für mich ein deutliches Zeichen, dass ich dem subkulturellen Herzen des Ravals langsam näher komme. Und tatsächlich stoße ich auf die ersten, verstreuten Cafés und Bars, auf deren Terrassen junge, sonnenbrillentragende Menschen sitzen und Sangria trinken, aus den Türen kleiner Klamottenläden sickert der Duft von Räucherstäbchen und Kreativität. Die Wohnungen in diesem Teil des Viertels scheinen etwas geräumiger und vorwiegend von Studenten bevölkert zu sein, statt Wäscheleinen schmücken Plakate und Fahnen die grauen Fassaden.
Trotz der farbenfrohen Atmosphäre, die vor Aufgewecktheit zu strotzen scheint, ist es unmöglich den Raval zu durchlaufen, ohne auch einen Blick in sein hässliches Gesicht zu erhaschen. Ich passiere Terrains, in denen die Stille plötzlicher Bedrückung zu weichen scheint – Hitze staut sich in den Hinterhöfen, die Luft ist so klebrig und stickig, dass man sie kaum atmen möchte. Hier pflastern stinkende Müllberge die Straßenecken wie Termitenhügel, die Farbe der Häuserfassaden ist längst abgeblättert, Fensterscheiben sind eingeschlagen oder gar nicht mehr existent. Die Blicke der Wenigen, denen man hier begegnet, sind misstrauisch und mürrisch, oft sind es alte, zerbrechliche Menschen, die sich mühsam die Strasse entlang schleppen. Ich lasse Kamera und Notizbuch in meiner Tasche verschwinden – ich würde mir sonst vorkommen, wie eine Sensationslustige, auf der Suche nach den bewegendsten Armutszeugnissen.
Diese Ecken des Ravals scheinen es zu sein, in die sich die früheren Bewohner zurückgezogen haben oder besser: in die sie vertrieben wurden, als es immer mehr Studenten in die vergleichsweise günstigen Wohnungen zog und die Mietpreise Stück für Stück anstiegen.
Denn die Medaille hat, wie so oft, zwei Seiten: Subkultur und Szeneviertel auf der Einen, Gentrifizierung und Entwurzelung auf der Anderen.
Nach acht Stunden schließlich, muss ich die Hülle des Kokons ein weiteres Mal aufbrechen, um ihm wieder zu entkommen. Das chaotische Treiben auf der Rambla in der Abendsonne wirkt jetzt umso aufgesetzter und künstlicher – ich bin froh, als ich meine schmerzenden Füsse auf der Zugfahrt nachhause hochlegen kann. Ich will gar kein Fazit aus meinem Streifzug durch den Raval ziehen. Das Viertel ist zu vielschichtig und kontrastreich, um es in wenigen Worten beschreiben zu können. Nur über eines bin ich mir nun im Klaren: Barcelona hat mir ein Stückchen Herz geklaut, und ich muss es mir bald zurückholen.